Tatbestand: |
1 |
Die Klägerin stellte am 23. März 2009 bei der Familienkasse der Bundesagentur für
Arbeit in N einen Antrag auf Zahlung eines Kinderzuschlages nach § 6a
Bundeskindergeldgesetz. Die Familienkasse N lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 3. Juli
2009 ab. Zwar werde die für die Klägerin geltende Mindesteinkommensgrenze von 600,- Euro
erreicht, der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft werde aber nicht gedeckt. Dem Bescheid
war folgender Hinweis beigefügt: |
2 |
"Wenn Sie Leistungen nach dem SGB II (...) oder
Wohngeld in Anspruch nehmen wollen, beantragen Sie diese bitte unverzüglich, spätestens
innerhalb eines Monats nach Erhalt dieses Bescheides bei Ihrem örtlich zuständigen
Träger (...). Beachten Sie, dass Ihnen bei einer späteren Antragstellung rückwirkende
Ansprüche möglicherweise verloren gehen können. Bitte fügen Sie dem Antrag diesen
Ablehnungsbescheid bei." |
3 |
Die Klägerin stellte am 15. Juli 2009 bei der Wohngeldstelle des Beklagten einen
Wohngeldantrag und bat unter Beifügung des Bescheides der Familienkasse N um
rückwirkende Bewilligung von Wohngeld. |
4 |
Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Wohngeldbescheid vom 3. August 2009 erst ab
dem 1. Juli 2009 bis zum 30. Juni 2010 monatliches Wohngeld in Höhe von 286,- Euro. |
5 |
Die Klägerin hat am 1. September 2009 die vorliegende Klage erhoben, mit der sie ihr
Begehren einer rückwirkenden Wohngeldbewilligung ab dem 1. März 2009 weiter verfolgt. |
6 |
Die Klägerin beantragt, |
7 |
den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des
Wohngeldbescheides vom 3. August 2009 zu verpflichten, über ihren Wohngeldantrag für den
Zeitraum vom 1. März 2009 bis zum 30. Juni 2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts erneut zu entscheiden. |
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Der Beklagte beantragt, |
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die Klage abzuweisen. |
10 |
Er führt im wesentlichen aus, dass eine rückwirkende Bewilligung nach § 25
Abs. 3 Wohngeldgesetz (WoGG) nicht in Betracht komme, da es sich bei dem
Kinderzuschlag nicht um eine sog. Transferleistung handele. Allerdings finde auch § 28
des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) keine Anwendung, da diese Vorschrift gemäß
§ 37 Satz 1 SGB I i.V.m. § 68 Nr. 10 SGB I keine Anwendung finde. Selbst
wenn die Vorschrift anwendbar wäre, seien die Voraussetzungen nicht erfüllt. Das Absehen
von der Stellung eines Wohngeldantrages stehe in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der
Beantragung eines Kinderzuschlages. Zudem diensten beide Leistungen einem
unterschiedlichen Zweck. |
11 |
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen. |
12 |
Entscheidungsgründe: |
13 |
Das Gericht kann durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem ihm der Rechtsstreit
durch Beschluss der Kammer vom 9. Oktober 2009 zur Entscheidung übertragen worden ist
(§ 6 Abs. 1 VwGO). |
14 |
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. |
15 |
Der Wohngeldbescheid vom 3. August 2009 ist teilweise rechtswidrig und verletzt die
Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch, dass der Beklagte über
ihren Wohngeldantrag für den Zeitraum vom 1. März 2009 bis zum 30. Juni 2009 unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entscheidet (§ 113 Abs. 5 Satz 2
VwGO). |
16 |
Nach § 1 WoGG dient Wohngeld der wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und
familiengerechten Wohnens. Gemäß § 22 Abs. 1 WoGG wird Wohngeld nur auf Antrag der
wohngeldberechtigten Person geleistet. Der Antrag ist formelle und materielle
Anspruchsvoraussetzung (vgl. Nr. 22.11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum
Wohngeldgesetz - WoGVwV 2009 -). |
17 |
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Neuregelung der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Wohngeldgesetzes 2009
(Wohngeld-Verwaltungsvorschrift 2009 - WoGVwV 2009) vom 29. April 2009, BR-Drucksache
968/08, Bundesanzeiger Nr. 73a, 15. Mai 2009, S. 1. |
18 |
Nach § 25 Abs. 2 Satz 1 WoGG beginnt der Wohngeldbewilligungszeitraum am Ersten des
Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist. Der hier festgesetzte Beginn des
Bewilligungszeitraums verdeutlicht nicht nur die Antragsabhängigkeit des
Wohngeldanspruchs. Begründet wird vielmehr zugleich für die Stellung des Wohngeldantrags
eine gesetzliche Frist im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB X. Um einen Wohngeldanspruch für
einen bestimmten Monat geltend zu machen, muss der Wohngeldberechtigte innerhalb dieses
Monats einen Antrag stellen. Die Antragsfristen für die Bewilligung von Wohngeld sind
materiell-rechtliche Ausschlussfristen. Ihre Wahrung ist Anspruchsvoraussetzung. |
19 |
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 18.
April 1997 - 8 C 38/95 -, NJW 1997, 2966. |
20 |
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin den Antrag auf Wohngeld zwar erst am 15. Juli
2009 gestellt. Auch § 25 Abs. 3 WoGG ist vorliegend nicht einschlägig, der sich
vorwiegend zum Verhältnis von Wohngeld und sog. Transferleistungen verhält. |
21 |
Es liegt aber eine Ausnahme nach § 28 Satz 1 SGB X vor. Diese Vorschrift lautet: |
22 |
"Hat ein Leistungsberechtigter von der Stellung
eines Antrags auf eine Sozialleistung abgesehen, weil ein Anspruch auf eine andere
Sozialleistung geltend gemacht worden ist, und wird diese Leistung versagt oder ist sie zu
erstatten, wirkt der nunmehr nachgeholte Antrag bis zu einem Jahr zurück, wenn er
innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder
Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist." |
23 |
Diese Vorschrift soll der Vermeidung von Rechtsnachteilen dienen, die ein Berechtigter
erleiden kann, wenn er seinen Anspruch auf Sozialleistungen gegen einen falschen
Leistungsträger geltend macht. Daher lässt die Vorschrift Ausnahmen von dem in der
Sozialrechtsordnung vorherrschenden Antragsprinzip, in dem meist der Beginn der Leistung
vom Zeitpunkt der Antragstellung abhängt, zu. |
24 |
Sie ist vorliegend anwendbar, da sie durch § 25 WoGG nur in dessen Anwendungsbereich,
also im Hinblick auf sog. Transferleistungen nach §§ 7 und 8 WoGG verdrängt wird (vgl.
§ 37 SGB I). |
25 |
Vgl. auch Stadler/Gutekunst/Dietrich/Fröba, Kommentar
zum Wohngeldgesetz, § 27, Rdnr. 26, Stand: April 2008. |
26 |
Zweck von § 28 Satz 1 SGB X ist es, dem Berechtigten die Möglichkeit einzuräumen,
einen Antrag auf andere Sozialleistungen mit Wirkung für die Vergangenheit nachzuholen,
wenn er von der Stellung dieses Antrags bisher abgesehen hat, weil er von dem
erstangegangenen Leistungsträger Sozialleistungen erwartet und diese Leistungen nicht
erhalten hat. |
27 |
Die Vorschrift ist dabei nicht einschränkend so auszulegen, dass bewusst in Erwartung
einer anderen Sozialleistung der Wohngeldantrag nicht gestellt wurde. Das Bewusstsein, von
einem Wohngeldantrag zunächst abzusehen, ist nicht erforderlich. Es reicht aus, dass
aufgrund eines Antrags auf eine andere Sozialleistung diese andere Sozialleistung erwartet
wird. Der Schutzzweck des § 28 SGB X würde verfehlt, wenn von dem
Sozialleistungsempfänger die Kenntnis dieser Vorschrift zu erwarten wäre, damit sie
überhaupt greifen kann. |
28 |
Vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom
26. Juni 2008 L 12 AS 407/08 -, juris. |
29 |
Insbesondere ist dabei weder eine Kausalität zwischen der Geltendmachung der einen
Sozialleistung und dem Absehen von der Antragstellung der anderen Sozialleistung noch ist
erforderlich, dass beide Leistungen in etwa denselben Leistungszweck verfolgen. |
30 |
Vgl. Pickel/Marschner, SGB X, Kommentar, § 28, Rdnr. 5;
a.A. Timme in: Diering/Timme/Waschull, SGB X Lehr- und Praxiskommentar, § 28,
Rdnr. 8; Hauck/Noftz, SGB X, Kommentar, § 28, Rdnr. 3a. |
31 |
Die Voraussetzungen des § 28 SGB X sind erfüllt. Denn die Klägerin hat im März
2009 bei der Familienkasse N einen Antrag auf Zahlung eines Kinderzuschlages nach § 6a
BKGG gestellt, der im Juli 2009 abgelehnt wurde. Sie hat bereits kurz danach und damit
innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder
Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist, den Wohngeldantrag gestellt. Der
nunmehr nachgeholte Wohngeldantrag wirkt nach dieser Vorschrift bis zu einem Jahr zurück.
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32 |
Die Klägerin hat mithin einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über ihren
Wohngeldantrag für den Zeitraum vom 1. März 2009 bis zum 30. Juni 2009 erneut
entscheidet. Er wird dabei von einem fristgerecht gestellten Wohngeldantrag auszugehen
haben und nach Maßgabe des Wohngeldgesetzes über den Wohngeldanspruch auch für diesen
Zeitraum entscheiden müssen. |
33 |
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. |
34 |
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO
i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. |
35 |